Ajax Amsterdam versinkt im Chaos. Auf die Entlassung von Sven Mislintat folgte beim Tabellenvorletzten der Eredivisie das Aus von Coach Maurice Steijn. Der Klub steht nun führungs- und trainerlos da. Wie konnte es soweit kommen?
Es gab eine Zeit, in der musste man das Spiel seines Lebens spielen, um Ajax Amsterdam zu besiegen. So geschehen etwa am 8. Mai 2019, als Lucas Moura die Grenzen eines Normalsterblichen überwand und mit einem Hattrick inklusive Siegtreffer in der sechsten Minute der Nachspielzeit den Niederländern den Final-Einzug in der Champions League verwehrte.
Das ist nun anders. Die Helden von damals sind Geschichte. Dusan Tadic – der Letzte von ihnen – verließ im Sommer den Klub. Und mittlerweile müssen Gegner auch nicht mehr übermenschliche Taten vollbringen, um Amsterdam zu schlagen. Tatsächlich scheint es in dieser Saison teilweise so, als würde es schon reichen, einfach nur zum Spiel zu erscheinen. Denn Ajax steckt momentan in der tiefsten Krise der Vereinsgeschichte.
In der Eredivisie steht der niederländische Rekordmeister mit nur fünf Punkten auf dem vorletzten Tabellenplatz. Letztmals gewann Ajax im August ein Spiel, das ergibt acht Partien in Folge ohne Sieg. Noch niemals musste der im Jahr 1900 gegründete Traditionsklub in seiner professionellen Geschichte eine so lange Durststrecke ertragen. Als Konsequenz daraus musste Coach Maurice Steijn am gestrigen Montag seinen Hut nehmen. Wie konnte es dazu kommen?
Overmars muss gehen
Als Startpunkt des Niedergangs gilt gemeinhin der 6. Februar 2022. Völlig überraschend verkündete Ajax damals, dass Sportdirektor Marc Overmars den Verein verlässt. Der damals 48-Jährige hatte „eine Reihe unangemessener Nachrichten über einen längeren Zeitraum an mehrere Mitarbeiterinnen verschickt“, wie es in einer Klubmitteilung hieß.
Aus moralischen Gründen war die Trennung unausweichlich, sportlich hinterließ sie in Amsterdam aber ein Vakuum. Schließlich war Overmars der Architekt des Erfolgs. Die Vereinslegende stand für Ajax-DNA und setzte die Transferphilosophie, junge Spieler zu verpflichten, auszubilden und gewinnbringend zu verkaufen, perfekt um. Zudem installierte er Erfolgstrainer wie Erik ten Hag.
Ohne Overmars standen die Amsterdamer führungslos da, denn die Suche nach einem Nachfolger verlief schleppend. Statt eines Sportdirektors übernahm ein Triumvirat aus dem damaligen Technischen Direktor Gerry Hamstra, Generaldirektor Edwin van der Sar und Assistent Klaas-Jan Huntelaar die Kaderplanung – und setzte die Sommertransferperiode 2022 in den Sand.
Erste Risse
Leistungsträger wie Antony, Lisandro Martínez, Sébastian Haller oder Ryan Gravenberch verließen den Verein, konnten aber anders als unter Overmars nicht adäquat ersetzt werden. Zudem offenbarten sich schon damals erste interne Risse in Amsterdam. Bestes Beispiel ist die Personalie Lucas Ocampos: Der Argentinier sollte vom FC Sevilla zu Ajax wechseln, der Medizincheck war bereits absolviert. Plötzlich intervenierte der Aufsichtsrat und gab das nötige Budget nicht frei. Ocampos flog zurück nach Sevilla, unterschrieb letztendlich dann aber doch zumindest auf Leihbasis in Amsterdam, nur um den Klub ein halbes Jahr später vorzeitig wieder zu verlassen.
Eine Posse, die nicht die einzige der Saison 2022/23 bleiben sollte. Als gegen Ende der Spielzeit feststand, dass Ajax nur Dritter werden und damit die Champions League verpassen würde, verwehrte der Klub seiner Frauenmannschaft, die gerade Meister geworden war, eine standesgemäße Feier. Die Atmosphäre rund um den Verein sei zu schlecht gewesen, so die Begründung damals, man habe Angst um das Image des Frauenfußballs, wenn niemand zur Party kommen würde. Stattdessen litt das Image des Vereins, die Stimmung heizte sich weiter auf.
Die Stimmung heizt sich auf
In der Saison 2023/24 sollte alles anders werden – so die Hoffnung. Mit Sven Mislintat hatte Ajax mittlerweile wieder einen klaren Sportdirektor installiert, der in die Fußstapfen von Overmars treten sollte. Und der ehemalige Stuttgarter machte sich direkt an die Arbeit: Zwölf Neuzugänge holte Mislintat für rund 110 Millionen Euro nach Amsterdam, im Gegenzug verließen 16 Spieler für insgesamt 156 Millionen den Verein. Das erwirtschaftete Transferplus wird wohl eine der wenigen Sachen sein, die positiv aus der kurzen Ära Mislintat hängenbleiben werden.
Denn als sportlich Hauptverantwortlicher hat der 50-Jährige in diesem Sommer versagt. Mit Mohammed Kudus, Jurrien Timber und Edson Álvarez verließ das letzte Tafelsilber den Verein, zudem ging Klubikone Tadic. Deren Vertreter waren entweder zu teuer, zu schlecht – oder beides. Vor allem in der Kritik stand die Tatsache, dass Mislintat vom klassischen Ajax-Weg abwich und nicht nur junge Spieler, sondern überteuerte Mitzwanziger aus teilweise unteren Ligen holte.
Auch mit seiner Trainerwahl machte er sich wenig Freunde. Mislintat rasierte den beliebten Johnny Heitinga, der einen respektablen Punkteschnitt von 2,05 Punkten aufwies und installierte mit Maurice Steijn ein unbeschriebenes Blatt. Der 49-Jährige stand zum Zeitpunkt seiner Entlassung übrigens bei 0,91 Punkten pro Partie.
Machtkämpfe & Untersuchungen
Zumal Trainer und Sportdirektor in den wenigen Wochen ihrer Zusammenarbeit nicht den Eindruck machten, ein unzertrennliches Duo zu sein. Im Gegenteil: Nach einem 0:0 gegen Fortuna Sittard am vierten Spieltag kritisierte Steijn öffentlich Mislintats Transfers: „Ich und mein Staff haben unsere Ideen an ihn herangetragen, aber er hat sich anders entschieden.“ Immerhin „kann ich sehr gut mit einem Spieler wie Sutalo (Innenverteidiger Josip Sutalo, Anm. d. Red.) leben. Die Implikation: Mit den anderen nicht.
Damit nicht genug. Mitte September verkündete Ajax, dass eine interne Untersuchung gegen Mislintat eingeleitet wurde. Denn beim Transfer von Borna Sosa waren Unstimmigkeiten aufgetreten: Der Ex-Stuttgarter war kurz vor seinem Ajax-Wechsel – angeblich auf Drängen des Sportdirektors hin – zur Berateragentur AKA Global gewechselt. Die hält Anteile an der Datenanalysefirma Matchmetrics, deren Mitgründer Mislintat ist. Ein Interessenskonflikt steht im Raum, schließlich würde das Unternehmen des Sportdirektors indirekt profitieren, wenn Ajax mehr Geld für Sosa zahlt.
Das alles sorgte dafür, dass am 24. September das Pulverfass Ajax Amsterdam explodierte. Beim Spiel zwischen dem Rekordmeister und Feyenoord Rotterdam sorgten Fans beim Stand von 0:3 für einen Spielabbruch. Feuerwerkskörper wurden aufs Feld geworfen, vor dem Stadion kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Wenige Stunden später wurde Mislintat entlassen, drei Tage später folgte Aufsichtsratschef Pier Eringa. Sie hinterlassen einen Traditionsverein in der größten Krise seiner Geschichte.
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