WM 2014: Das europäischste Brasilien der Geschichte bittet zum Tanz
Brasilien. Belo Horizonte. 22 Uhr. Die gesamte Fußballwelt, vermutlich nahezu die ganze Welt, schaut Richtung Estadio Mineirão. Rekordweltmeister Brasilien trifft auf den dreifachen Weltmeister Deutschland. Die Stifte und Tastaturen für die Geschichtsbücher sind gespitzt. FussballTransfers blickt voraus, was am heutigen Abend auf die DFB-Elf zukommt und wie Scolari auf die Ausfälle Neymars und Thiago Silvas reagieren wird.
Am heutigen Dienstagabend könnte in Belo Horizonte Fußballgeschichte geschrieben werden. Sicherlich, die DFB-Elf könnte den Gastgeber aus dem Turnier kegeln und ins Finale einziehen. Historischer mutet aber an – wenn auch zugegeben etwas subjektiv – dass eine Deutsche Nationalmannschaft wohl erstmals in der Historie mit einer fußballerisch besseren Mannschaft als die traditionell mit Edeltechnikern gespickte ‚Seleção‘ antritt. Insbesondere mit Toni Kroos, Bastian Schweinsteiger und Mesut Özil verfügt die Mannschaft von Bundestrainer Jogi Löw über technisch ausgewiesene Extraklasse. Mit Oscar oder Willian besitzt Brasilien zwar noch immer herausragende Fußballer, ohne Nemyar geht dem Gastgeber der filigrane Glanz vergangener Tage jedoch ab.
Zumal die Elf von Luiz Felipe Scolari bislang ohnehin mit einer ungewohnt ruppigen Gangart auffiel. Dennoch – der Erfolg gibt dem Coach und den Männern aus dem Land des Rekordweltmeisters Recht. Gegen Deutschland kommt jedoch die taktik- und personaltheoretisch schwerste Aufgabe auf den brasilianischen Lehrmeister zu. Mit dem Star des Teams, Neymar, und Kapitän Thiago Silva fallen gleich zwei Säulen der Mannschaft aus. Insbesondere mit dem Weltstar des FC Barcelona stieg und fiel das Spiel in den bisherigen Partien. Nahezu sämtliche Kreativmomente und gefährlichen Angriffe liefen über den 22-Jährigen. Nach dessen Ausfall muss Scolari die Taktik seiner Nationalmannschaft modifizieren.
Das europäischste Brasilien der Geschichte
Das wiederum könnte den Teamgeist der Brasilianer fördern. Denn die Spieler vom Zuckerhut werden sich der Situation bestens bewusst sein. Es gibt keinen Akteur mehr für die magischen Momente. Es geht einzig und alleine über die kompakte, einträchtige Mannschaftsleistung. Und mit einer solchen wussten die Südamerikaner bei dieser WM in bisher unbekannter Art und Weise zu überzeugen. So erlebt die Fußballwelt am heutigen Dienstagabend (22 Uhr) womöglich das europäischste Brasilien aller Zeiten.
Im Abwehrzentrum wird Thiago Silva mit größter Wahrscheinlichkeit von Bayerns Dante ersetzt. Der 30-jährige Linksfuß wird wohl in die linke Innenverteidigung rücken, David Luiz wechselt auf rechts. Fußballerisch, insbesondere in puncto Spieleröffnung, wird der Bundesligaprofi die Qualität in der Verteidigung des fünffachen Weltmeisters voraussichtlich wenn überhaupt marginal schmälern.
Vaterfigur Thiago Silva
Allerdings agierte Kapitän Silva als Abwehrchef in einer Art fürsorglicher Vaterfigur für seine häufig stürmischen, übermotivierten Kollegen. Dani Alves/Maicon, Marcelo und David Luiz sind allesamt sehr gute Fußballer, insbesondere im Offensivspiel, dennoch neigen sie trotz aller europäischer Disziplin ab und an zu Übermut im Angriffsspiel. Hier schließt ‚Vater‘ Silva die entstehenden Lücken, füllt Zwischenräume und bügelt somit die gelegentlich auftretenden taktischen Disziplinlosigkeiten seiner Nebenleute aus – unterstützt von den Defensivarbeitern Fernandinho und Luiz Gustavo. Für Dante ist diese Aufgabe wohl eine Nummer zu groß.
Auf die beiden Staubsauger kommen insbesondere im Spiel gegen den Ball sowie im Umschaltspiel wichtige Rollen zu. Den Spielaufbau werden vorwiegend Dante und Luiz übernehmen, die über eine blitzsaubere Spieleröffnung verfügen sowie zielgenaue Diagonalbälle spielen können. Damit sollen voraussichtlich insbesondere die schnellen Flügelspieler Hulk und Willian gefüttert werden, die beide auf unterschiedliche Weise in Einzelaktionen glänzen können.
Der kopflose, aber brandgefährliche Hulk
In den vergangenen Spielen war Hulk mehrfach einer der auffälligsten Brasilianer. Mit seinem wuchtigen Körper und seinem schnellen Antritt zog der 27-Jährige häufig an den gegnerischen Defensivspielern vorbei. Letztlich wirken die Aktionen des Modellathleten jedoch nicht selten kopflos, so als denke er immer erst dann über die nächste Aktion nach, wenn er mit dem Ball losgerannt ist – wenn überhaupt. Lässt man ihn jedoch gewähren, kann der Star von Zenit St. Petersburg Spiele im Alleingang entscheiden.
Sein Pendant auf der rechten Seite glänzt vielmehr mit einer ganz feinen Technik und ist äußerst trickreich. Zudem dürfte der Chelsea-Akteur deutliche Vorteile gegenüber Benedikt Höwedes im Antritt haben. Für den Schalke-Verteidiger gilt es, den wuseligen, torgefährlichen Willian schon bei der Ballannahme zu stören. Im eins gegen eins könnte der deutsche Linksverteidiger den Kürzeren ziehen.
Oscar ersetzt Neymar – wenn auch in anderer Rolle
Auf die ominöse Position hinter der Spitze Fred wird wohl Oscar, ebenfalls FC Chelsea, rücken. Dem taktisch klugen Feingeist kommt aber voraussichtlich eine andere Rolle zu als seinem Vorgänger Neymar. Oscar ist defensiv wesentlich stärker als der verletzte Star der ‚Seleção‘. Insofern ist vorstellbar, dass der ebenfalls 22-Jährige als eine Art Hybridlösung aus Achter und Zehner fungiert. Auch um seine zentralen Defensivkollegen Fernandinho und Luiz Gustavo zu unterstützen.
Da zu erwarten ist, dass sich ein Großteil der Partie im Mittelfeld abspielt, gilt es für beide Teams ein Übergewicht im Zentrum zu schaffen. Hier könnte Oscar seine Kollegen gegen die ballsicheren DFB-Kicker Schweinsteiger, Kroos und mit Abstrichen Sami Khedira unterstützen. Hinzu kommt Mesut Özil, der aufgrund seines Naturells dazu neigt, ebenfalls in die Mitte zu ziehen, sodass Deutschland die Räume überladen kann.
Apropos Historisches: In die Geschichtsbücher könnte sich auch Miroslav Klose im heutigen Halbfinale gegen Brasilien dick und fett in metaphorisch untermaltem Rot eintragen. Trifft der 36-Jährige gegen den Gastgeber, zieht er an deren Sturm-Ikone Ronaldo vorbei und thront mit dann 16 Treffern ganz oben in der ewigen Torschützenliste der Fußballweltmeisterschaft. Welch Ironie des Schicksals wäre es, würde der gebürtige Pole diesen historischen Rekord ausgerechnet gegen das Heimatland seines Widersachers brechen.
Fazit
Der DFB-Elf steht ein ganz hartes und wohl auch schmerzhaftes Stück Arbeit bevor. Spielerische Glanzpunkte dürften trotz der mitunter herausragenden fußballerischen Qualität einiger Akteure Mangelware sein. Wieder einmal wird das viel zitierte ‚bessere Kollektiv‘ die Partie für sich entscheiden. Traditionell sind Standardsituationen ein probates Mittel, verflacht die Attraktivität eines Spiels in Mittelfeldreibereien.
Gerade bei der WM in Brasilien fielen überdurchschnittlich viele Tore nach ruhenden Bällen. Beide Reihen verfügen über ausgezeichnete Kopfballspieler. Von daher gilt es für beide Seiten Freistöße in der eigenen Hälfte tunlichst zu vermeiden. Psychologisch dürfte Deutschland die Nase leicht vorn haben. Der Neymar-Ausfall wiegt bei Brasilien schwer, so gern versucht wird, dies kleinzureden. Zudem ist der immense Druck auf den Gastgeber wohl noch um einige Pascal höher als der auf die DFB-Elf.
So könnten sie spielen
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