Viele talentierte und namhafte Mittelfeldspieler hatten nach ihrem Wechsel in die Premier League zu Beginn große Probleme, sich den speziellen Gegebenheiten anzupassen. Für Memphis Depay, Ángel di María oder auch Shinji Kagawa hat sich der Wechsel nach England als klarer Karriereknick erwiesen. Umso bemerkenswerter ist es, wie schnell Kevin de Bruyne bei den Citizens zum absoluten Schlüsselspieler herangewachsen ist. Eine Analyse.
Als Kevin de Bruyne 2014 zum Bundesligaspieler des Jahres gewählt wurde und den VfL Wolfsburg anschließend für 74 Millionen Richtung England verließ, lautete eine weit verbreitete Meinung unter den Fans und Journalisten, dass der Belgier ein One Hit Wonder sei. De Bruyne müsse sich noch konstant beweisen und sei die Summe nicht wert. In Manchester dagegen, wo das Geld bekanntlich etwas lockerer sitzt, gab es offenbar eine andere Sichtweise. Die Citizens legten am Ende die von Wolfsburg geforderte Summe auf den Tisch und haben sich damit einen der interessantesten Spieler im Weltfußball gesichert, der das Potenzial hat, den Verein in nie dagewesene Sphären zu führen.
Mourinhos größter Irrtum
Im Januar 2012 war de Bruyne von seinem Heimatverein KRC Genk zum FC Chelsea gewechselt. Dort stand der belgische Nationalspieler von 2012 bis 2014 unter Vertrag. Allerdings bestritt er nur neun Pflichtspiele für den Klub aus London. Wie zahlreiche vor ihm im Spieler-Franchise-System Chelsea wurde auch de Bruyne an einen kleineren Klub verliehen. Klaus Allofs erkannte das Talent und sicherte sich im August 2012 den Zuschlag. Auch wenn die sportlich prekäre Situation des SV Werder Bremen vieles überschattete, bemerkten aufmerksame Beobachter des Fußballs schon früh, dass de Bruynes Leistungen in seiner Werder-Zeit gar nicht hoch genug einzuschätzen waren.
Der Belgier ragte schon damals aus einem Team ohne wirkliche Automatismen regelmäßig heraus, konnte in 33 Spielen zehn Tore erzielen und steuerte neun Assists bei. Diese Leistungen blieben den Blues nicht verborgen und so holte man das Nachwuchstalent wieder zurück an die Bridge. Doch auch de Bruynes zweiter Anlauf in London erwies sich am Ende als Enttäuschung. Wieder erhielt er nicht die Einsätze, die er sich erhoffte und so entschloss sich Chelsea, den Spieler auf eigenen Wunsch hin in der Winterpause an den VfL Wolfsburg zu verkaufen. Das Missverständnis Chelsea war beendet.
José Mourinho, der die Londoner zu dieser Zeit trainierte, machte insbesondere de Bryunes Mentalität verantwortlich für sein Scheitern. „Ich wollte ihn behalten, aber er sagte mir, es entspräche nicht seiner Persönlichkeit, um seine Position in der Mannschaft zu kämpfen. Man muss ihn wissen lassen, dass er wichtig ist“, erläuterte der Portugiese damals. De Bruyne selbst machte fehlendes Renommee im Weltfußball verantwortlich für seinen Mangel an Einsätzen: „Als ich zu Chelsea kam, hatte ich bereits viel Erfahrung. Ich fühlte mich nicht wie ein normaler 20-Jähriger, weil ich schon so viele Jahre in Belgien gespielt hatte. Ich glaube, bei Chelsea hat man mich anders gesehen als ich mich selbst. Ich war bereit zu spielen. Ich habe aber gelesen, dass man mich bei Chelsea für zu jung hielt. Das sah ich anders“. So oder so: Zusammenfassend hatte Mourinho das Talent in de Bruyne schlichtweg nicht richtig gefördert.
Der Sprung in die Weltklasse
In Wolfsburg fand de Bruyne dann das vor, was er bei Chelsea immer vergeblich gesucht hatte: Das Vertrauen aller Verantwortlichen in seine Fähigkeiten: „Kevin ist ein Spieler mit herausragenden Fähigkeiten. Ich bin sehr froh, dass er sich für den VfL entschieden hat“, bemerkte VfL-Trainer Dieter Hecking bei de Bruynes Vorstellung. Die Rückrunde 2014 nutzte der Belgier noch, um sich in seiner neuen Mannschaft zurechtzufinden und die Vorstellungen des Trainers zu verinnerlichen. Dabei gelangen ihm immerhin beachtliche neun Scorerpunkte in 16 Bundesligaspielen. In der darauffolgenden Saison explodierte der damals 23-Jährige förmlich im Trikot der Wölfe. In 34 Spieltagen steuerte er zehn Treffer und sagenhafte 21 Vorlagen bei. Bundesligarekord.
Doch reichen die reinen Scorerpunkte bei weitem nicht aus, um die Wertigkeit eines de Bruyne für den VfL Wolfsburg umfassend abzubilden. In kürzester Zeit gelang es dem Belgier, das Spiel der Wölfe an sich zu reißen und regelmäßig entscheidende Impulse in der Offensive zu setzen. Neben all den direkten Vorlagen, die der Belgier für sich verzeichnete, war er auch regelmäßig der Mann für Tempoverschärfungen und öffnende Pässe im Umschaltspiel der Wölfe, aus denen Großchancen erst entstanden.
De Bruyne zählt zu der kleinen Gruppe Spieler im Weltfußball, die nicht nur selbst regelmäßig glänzen, sondern auch die Mitspieler im Kollektiv besser machen. An der Seite des Ex-Chelsea-Spielers wuchsen in der Offensive insbesondere Daniel Caligiuri, Ivan Perisic oder Bas Dost, der wie kein anderer von den messerscharfen Hereingaben profitierte, über sich hinaus und bildeten mit de Bruyne ein perfekt funktionierendes Angriffsquartett.
De Bruyne glänzt auch in den großen Spielen
Große Spieler, so lautet eine alte Fußballweisheit, zeigen sich in großen Spielen. De Bruyne traf gegen im DFB-Pokalfinale den BVB, schoss die Bayern beim 4:1-Sieg in der Rückrunde mit zwei Toren fast im Alleingang ab und auch beim 3:1-Heimsieg in der Europa League gegen das damals noch sportlich hoch angesehene Inter Mailand steuerte er zwei Tore bei. Die Kür der Saison, die seinen Marktwert auf dem internationalen Transfermarkt noch einmal in die Höhe trieb, lieferte de Bruyne beim Pokalfinale gegen den BVB ab. Nach frühem Rückstand traf er zum zwischenzeitlichen 2:1 und führte seinen VfL als unermüdlicher Antreiber danach auf die Siegerstraße.
Vergangenheitsbewältigung in England
Natürlich blieben die Leistungen des dynamischen Rechtsfuß' vielen internationalen Topvereinen nicht verborgen. Auch wenn der FC Bayern das Interesse am Spieler öffentlich stets dementierte, arbeitete man hinter den Kulissen am Transfer. Das zumindest legte eine spätere Aussage von Patrick de Koster, de Bruynes Berater, nahe. Demnach sei sich Deutschlands Fußballer des Jahres vor seinem Transfer auf die Insel im vergangenen Sommer mit Rummenigges FC Bayern über einen Wechsel einig gewesen. Am Ende nahm der Rekordmeister Abstand jedoch vom Transfer, da man nicht bereit war, mehr als 50 Millionen Euro Ablöse für den Mittelfeldspieler zu zahlen.
Manchester City sicherte sich für 75 Millionen Euro am Ende den Zuschlag. Anders als in seiner ersten Zeit in England wusste de Bruyne in der Premier League diesmal sofort zu überzeugen und strafte die Kritiker Lügen, die im Belgier eine Eintagsfliege gesehen hatten. Der Ex-Bremer trug sich in den ersten vier Spielen für den Scheichklub gleich dreimal in die Torschützenliste ein. Am Ende der Saison standen in 25 Spielen sieben Tore und neun Vorlagen auf seinem Konto.
Wie auch schon bei Wolfsburg fiel es dem Rotschopf leicht, sich in der Premier League an sein neues Team und Umfeld gewöhnen. In einer oft ideenlosen City-Mannschaft war es wiederholt der Belgier, der entscheidende Spielsituationen herbeiführte. Als „rothaarige Perle“ bezeichnete ihn die ‚Times‘. Die ‚Daily Mail‘ attestierte ihm eine „gebieterische Rolle über den Gegner“. Schnell hatte sich der auf der Insel einst kritisierte Techniker zum Fanliebling gemausert. Der damalige Coach Manuel Pellegrini adelte ihn hochachtungsvoll als „den perfekten Transfer für mein Team“.
Das perfekte Gesamtpaket
Nachdem Manchester City in der Saison 2015/2016 auf einem enttäuschenden Tabellenplatz vier gelandet war und die Qualifikation für die Champions League beinahe verpasst hätte, musste Chefcoach Pellegrini seinen Hut nehmen. Den Verantwortlichen von den Citizens gelang es, stattdessen Pep Guardiola für sich zu gewinnen. Auch bei dem neuen Coach aus Spanien nimmt de Bruyne eine Schlüsselrolle ein.
Der Startrainer bezeichnet den inzwischen 25-Jährigen als einen der besten Spieler, die er je trainieren durfte und schreckt selbst vor einem Vergleich mit einem gewissen Argentinier nicht zurück: „Messi spielt in seiner eigenen Liga, aber Kevin kommt gleich danach. Er versteht das Spiel, ist körperlich stark und sieht wirklich alles. Vor dem Tor kann er passen und Tore schießen“, lobt der Katalane seinen Spielgestalter. Große Worte eines großen Trainers, der in seinem Leben mit den Besten des Fußballs zusammenarbeitete und wie kaum ein zweiter den Blick hat für das Potenzial seiner Schützlinge.
De Bruynes außergewöhnliche Fähigkeiten
In der Tat zählt de Bruyne zu den komplettesten offensiven Mittelfeldspielern, die im europäischen Topfußball zu finden sind. Offensichtliche Schwächen in seinem Spiel sind kaum auszumachen. Sein Kopfballspiel könnte er wie viele andere offensive Mittelfeldspieler noch verbessern. Dafür sind die Stärken umso ausgeprägter: Der Belgier verfügt beidfüßig über eine hervorragende Schusstechnik und ist sowohl im als auch außerhalb des Strafraums ein ständiger Gefahrenherd. Auch brandgefährliche Freistöße, die sich erst in letzter Sekunde zum Tor hin senken, gehören inzwischen zum Repertoire des Rotschopfs.
De Bruyne ist kein typischer Dribbler wie Eden Hazard oder Franck Ribéry, besitzt jedoch einen schnellen Antritt und eine ausgeprägte Agilität, die es ihm ermöglichen, an seinem Gegenspieler vorbeizuziehen, wenn nötig. So schafft er es auch regelmäßig, am Ende eines Angriffs selbst in gefährliche Positionen zu gelangen und mit seinen messerscharfen flachen Hereingaben für Gefahr im Strafraum zu sorgen.
Was den Belgier aber insbesondere auszeichnet, sind seine ausgeprägte Spielintelligenz und die Fähigkeit zur richtigen Entscheidungsfindung. Dadurch hebt er sich letztendlich von zahlreichen Topspielern im Weltfußball ab. De Bruyne besitzt den angeboren Instinkt, in Bruchteilen die richtige Entscheidung zu treffen, welchen Teil er von seinem ausgeprägten Repertoire in welchen Situationen abrufen muss, um die Spielsituation bestmöglich zu lösen.
All diese Fähigkeiten im Paket machen aus de Bruyne für jede Abwehrreihe der Welt einen extrem flexiblen und somit kaum ausrechenbaren Spieler. Ob als moderner Zehner, inverser Flügelstürmer oder falsche Neun. Dank seiner Polyvalenz kann er beinahe jede Position im Offensivbereich bekleiden. Eine Eigenschaft, die im modernen Fußball zunehmend an Wichtigkeit gewinnt, insbesondere unter einem Trainer wie Guardiola.
Auf dem Weg zur Perfektion
De Bruyne hat sich in seiner eineinhalbjährigen Premier League-Zeit ohne Anlaufschwierigkeiten zu einem der bester Spieler entwickelt und eindrucksvoll bewiesen, dass er die hohe Ablösesumme wert ist. Wie bereits bei Wolfsburg hat er sich auch bei City zu einem absoluten Leader gemausert. Mit Guardiola hat er zudem jetzt einen Trainer, der zu den besten des Weltfußballs zählt.
Insbesondere im Bereich Spielerentwicklung hat der Katalane seine Qualitäten bereits hinlänglich bewiesen. Guardiola gelingt es, junge talentierte Spieler noch besser zu machen und Topspieler auf ein neues Level zu heben. Um Messis Stärken am besten zur Geltung zu bringen, erfand er einst die Position der falschen Neun und formte den Argentinier somit zum besten Fußballer unserer Zeit. Busquets entwickelte sich unter seinen Fittichen zu einem der intelligentesten Sechser im Weltfußball und Jérôme Boateng schaffte bei Bayern den Sprung vom talentierten Rohdiamanten zum Weltklasse-Innenverteidiger.
Es wird spannend sein zu beobachten, inwiefern Guardiola mit der Zeit dazu beitragen kann, de Bruynes Spiel auf ein noch höheres Niveau zu heben und seine mannigfaltigen Talente auf dem Platz noch effektiver einzusetzen. Insbesondere im Bereich Positionsspiel und Defensivverhalten kann sich der Belgier noch weiter steigern. Auch wenn er schon reihenweise Topleistungen abgeliefert hat, steht er damit erst am Anfang seiner großen Karriere.
Sofern er dauerhaft von Verletzungen verschont bleibt, ist es eine Frage der Zeit, bis er ein neues Level erreicht. Ein Spieler, der im Weltfußball neue Maßstäbe setzen kann, was zukünftige Erwartungen an einen offensiven Spielmacher betrifft. Ein Spieler, auf dessen schmalen Schultern zu Recht die Hoffnungen eines ganzen Vereins ruhen, das Team auch in der Champions League endgültig auf das nächste Level zu heben. Ein Spieler, der die Fähigkeiten hat, die Zukunft des Weltfußballs maßgeblich zu prägen wie kaum ein zweiter auf seiner Position.
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