Außenbahn-Phobie: Löw nominiert den Falschen nach
Jonathan Tah wird Antonio Rüdiger ersetzen. Was auf den ersten Blick wie die logische Konsequenz erscheint, ist allerdings auch ein Zeichen für Joachim Löws mangelndes Interesse an offensivstarken Außenverteidigern.
Der Schock saß tief, als sich Antonio Rüdiger bei der ersten Trainingseinheit im EM-Quartier in Evian einen Riss des vorderen Kreuzbands zuzog. Schließlich hatte Joachim Löw den robusten Ex-Stuttgarter als Ersatz für Mats Hummels vorgesehen. Zumindest so lange, bis dieser nach seinem Muskelfaserriss fit genug ist für einen Startelfeinsatz.
Nun aber musste Löw schnell reagieren und sich Gedanken über einen sinnvollen Ersatz machen. Die Wahl fiel auf Jonathan Tah – einen hochveranlagten und athletisch hervorragend ausgebildeten Innenverteidiger, der ohne Frage das Zeug hat, sich auf kurz oder lang einen festen Platz in der Nationalmannschaft zu ergattern. Den verletzten Rüdiger ersetzt der 20-Jährige eins zu eins. Doch man sollte sich eher folgende Frage stellen: Wäre es nicht sinnvoller gewesen, einen Außenverteidiger nachzunominieren? Also sozusagen Versäumtes nachzuholen.
Höwedes muss nach innen
Das wenig glanzvolle Testspiel gegen Ungarn offenbarte einmal mehr: Benedikt Höwedes gehört in die Innenverteidigung. Offensivaktionen sind bei dem Schalker traditionell Fehlanzeige. Mit ihm auf der rechten Außenbahn ist das Aufbauspiel der DFB-Elf sehr ausrechenbar. Hinzu kommt, dass seine Schnelligkeitsdefizite auf dem Flügel deutlich häufiger zu Problemen führen als in der Zentrale. Dies war schon beim WM-Titel vor zwei Jahren augenscheinlich, konnte aber aufgrund der Mittelfeld-Dominanz aufgefangen werden.
Sinnvoller wäre es also aus Löws Sicht gewesen, einen waschechten Außenverteidiger ins Boot zu holen. Mitchell Weiser beispielsweise hatte sich in der Bundesliga aufgedrängt. Und auch Erik Durm oder Marcel Risse wären Alternativen gewesen. Nicht zuletzt hätte auch Sebastian Rudy, der bei Löw ohnehin ausnahmslos als Rechtsverteidiger agiert, noch verspätet die Reise nach Frankreich antreten können.
Besonders notwendig sind starke Außenspieler mit Blick auf das 3-5-2, das Löw bei der EM situativ praktizieren lassen möchte. Denn mal ehrlich – wer kann sich vorstellen, dass Höwedes oder auch Kollege Mustafi 90 bis 120 Minuten unermüdlich die rechte Bahn rauf und runter marschieren, weil vor ihnen niemand mehr positioniert ist, der ihnen das Offensivspiel abnehmen kann?
Klar ist: Deutschland zählt auch unabhängig von dieser Personalie zu den Topfavoriten bei der EM. Aber besonders seit dem Abdanken von Philipp Lahm klafft eine riesige Lücke hinten rechts – und das unter anderem auch, weil Löw sehr auf das Zentrum fixiert ist. Das belegen auch die Nichtberücksichtigungen von Marcel Schmelzer und den beiden Reus-Alternativen Karim Bellarabi und Julian Brandt.