Mit seinem Doppelpack im gestrigen Champions League-Spiel gegen die SSC Neapel hat Erling Braut Haaland Geschichte geschrieben. Spätestens jetzt ist der norwegische Stürmer von RB Salzburg in aller Munde. Bei allem Hype ist aber auch nach der Partie gegen Napoli klar: Ein fertiger Spieler ist Haaland noch nicht.
Es läuft die achte Minute im Spiel von RB Salzburg gegen die SSC Neapel. Nach einem Schuss von Enock Mwepu prallt der Ball gleich von mehreren Spielern ab, fliegt unberechenbar durch den Strafraum der Italiener und landet irgendwie auf dem starken linken Fuß des jungen Norwegers. Ein strammer Schuss, Tor.
Von Dauer ist der Salzburger Jubel jedoch nicht. Schiedsrichter Clément Turpin pfeift das Tor zurück, Haaland stand im Abseits. Es ist eine Szene, die sinnbildlich für das Spiel des 19-Jährigen gegen Napoli steht: Ein junger Stürmer, dem derzeit alles von allein zuzufliegen scheint, der über außergewöhnliche Abschlussqualitäten verfügt, aber dem eben längst nicht alles gelingt.
Ein enormer Hype
Es ist eine schon fast überraschende Erkenntnis, schließlich umgibt Haaland derzeit ein Hype, der in Fußball-Europa seinesgleichen sucht. Kein Wunder, nach 13 Pflichtspielen der laufenden Saison steht der 1,94 Meter-Hüne bei 20 Toren und fünf Vorlagen. Auch gegen Napoli am gestrigen Mittwochabend traf Haaland – und das gleich zweimal. Sechs Champions League-Tore stehen nun nach drei Spielen auf seinem Konto. Eine Quote, die laut ‚Opta‘ so noch kein anderer Spieler in der Königsklasse jemals so vorzuweisen hatte.
6 - Erling Haaland is the first ever player to score as many as six goals in his first three Champions League appearances. Phenomenal. pic.twitter.com/9IqD7Y86iL
— OptaJoe (@OptaJoe) October 23, 2019
Fast schon zwangsläufig wird das Sturm-Phänomen bereits mit zahlreichen Großklubs in Verbindung gebracht. In der Premier League wedeln sie mit den Scheinen, unter anderem Manchester United – offensiv derzeit eher bieder – soll an Haaland und seinem Torriecher interessiert sein. Auch Borussia Dortmund schaut beim 19-Jährigen genau hin. Ist er etwa der großgewachsene, spielstarke Stürmer der Zukunft, den Schwarz-Gelb gerade so gut gebrauchen könnte?
Einen Favoriten im Transferpoker gibt es noch nicht, klar scheint jedoch, dass der in Leeds geborene Sohn des ehemaligen Premier League-Spielers Alf Inge Haaland nicht lange in Salzburg bleiben wird. Ebenfalls klar ist jedoch, dass der aktuelle Hype um den Blondschopf eine Erwartungshaltung mit sich bringt, der das Sturm-Juwel nicht gerecht werden kann. Haaland hat gute Anlagen, er ist aber noch lange kein fertiger Spieler, der in der Lage sein wird, seinen aktuellen Lauf aufrechtzuerhalten.
Ein Profiteur des Systems
Seine momentan überragende Torquote ist vor allem das Resultat eines auf kompromisslose Offensive ausgelegten Salzburger Spielstils, mit dem die Elf von Trainer Jesse Marsch regelmäßig ihre hoffnungslos überforderten Gegner in der österreichischen Liga auseinandernimmt. Der RB-Angriff ist so effektiv, dass er auch in der Champions League funktioniert. Elf Tore stehen in der Königsklasse zu Buche, aber eben auch neun Gegentore. Als Konsequenz dessen verlor man zwei von drei Partien.
Dass Haaland noch kein Spieler ist, der allein den Unterschied ausmachen kann, wurde auch gegen Napoli ersichtlich. Trotz seiner prädestinierten Statur wurde er von Marsch kaum als Wandspieler eingesetzt. Die Offensive lief über weite Teile der Partie über den Ex-Hamburger Hee-chan Hwang und Patson Daka, die im 4-2-3-1 die Flügel besetzten. Zwischen der 39. (Haalands Tor zum 1:1 per Elfmeter) und der 74. Minute (Haalands Tor zum 2:2) war der Mittelstürmer förmlich unsichtbar und der Feldspieler auf dem Platz mit den wenigsten Ballaktionen.
Dass Haaland grundsätzlich dazu in der Lage ist, den Ball mit dem Rücken zum Tor effektiv abzuschirmen und weiterzuleiten, zeigte Salzburgs Nummer 30 zwar – wie etwa beim beschriebenen Abseitstor, das er selbst einleitete. Öfter unterliefen Haaland jedoch technische Fehler bei der Ballverarbeitung oder Ungenauigkeiten im Passspiel.
Ein eiskalter Torjäger
Der Norweger präsentierte sich gegen Napoli vor allem als schnörkelloser Knipser, der auf direktem Weg den Abschluss sucht. In Kombination mit seiner überragenden Physis, seiner Antrittsschnelligkeit und dem Gespür für die richtigen Laufwege macht das Haaland zu einem extrem gefährlichen Gegenspieler, den Verteidiger nicht aus dem Auge lassen dürfen. Denn kommt er einmal in aussichtsreiche Abschlusspositionen, lässt sich der 19-Jährige nicht zweimal bitten: Für seine ersten vier Champions League-Tore benötigte er vier Schüsse.
In der richtigen Offensive kann Haaland so zu einer echten Waffe werden, wie er derzeit eindrucksvoll in Salzburg demonstriert. Ein mitspielender, offensiver Fixpunkt, wie ihn etwa Robert Lewandowski beim FC Bayern darstellt, ist er aber (noch) nicht. Das Potenzial, irgendwann einmal das Niveau des Polen zu erreichen, hat der Norweger zwar allemal. Der Verein, der sich in naher Zukunft dazu entschließen wird, eine Riesenablöse auf den Tisch zu legen – und davon ist auszugehen – sollte sich dessen jedoch bewusst sein und die Erwartungshaltung zurückschrauben. Auch ein Sturmphänomen hat seine Limitationen.
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