Hecking als Sündenbock – die Ursachen für den schleichenden VfL-Abstieg
Nach einem enttäuschenden 14. Rang in der Bundesliga und zwei Punkten Rückstand auf einen Abstiegsplatz hat Wölfe-Manager Klaus Allofs die Reißleine gezogen und Cheftrainer Dieter Hecking entlassen. Tatsächlich hinkt der Verein seinen eigenen Ansprüchen meilenweit hinterher. Doch wie konnte der Vizemeister und DFB-Pokal-Sieger der Saison 2015 derart abstürzen? Ist der Trainer wirklich der Alleinschuldige? FT begibt sich auf Ursachenforschung.

Rückblick
Wir schreiben den 30. Mai 2015. Der VfL Wolfsburg feiert in Berlin mit einem 3:1-Sieg über Borussia Dortmund den ersten DFB-Pokal-Sieg in der Geschichte des Vereins. Zeitgleich belegt das Team in der Bundesliga-Abschlusstabelle einen sensationellen Platz zwei hinter dem FC Bayern. Für die Medien war ein neuer Bayern-Jäger geboren. Der VfL Wolfsburg sah sich selbst bestens gerüstet für die Zukunft: „Wir können eine der besten vier Mannschaften in Deutschland werden.“ Auch Bundestrainer Joachim Löw prognostizierte den Wölfen eine schillernde Zukunft: „Wolfsburg hat das Potenzial, die zweite Kraft hinter Bayern zu werden.“
Vom ‚Hec-king‘ zum Buhmann
Vater des Erfolgs war Trainer Dieter Hecking, den die Niedersachsen 2013 aus Nürnberg per Ausstiegsklausel aus seinem Vertrag herauskauften. Diesem gelang es, den VfL Wolfsburg über die Jahre kontinuierlich weiterzuentwickeln und aus veranlagten Einzelspielern ein funktionierendes Kollektiv zu formen, an dessen Ende der Einzug in die Champions League und der sensationelle DFB-Pokal-Sieg 2015 standen. Der sonst so besonnene Trainer zeigte sich völlig losgelöst und hüpfte vor Freude wild über den Rasen des Berliner Olympiastadiums, bekleidet mit einer Kappe, auf der das Wort „King“ gedruckt war. Als Belohnung für die herausragende Saison 2014/15 stand am Ende Platz eins bei der vom Fachmagazin ‚kicker‘ durchgeführten Wahl zum Trainer des Jahres. ‚Hec-king‘ war angekommen im Kreise der am meisten geschätzten Trainer Deutschlands.
Grade einmal knapp eineinhalb Jahre später ist der gelernte Polizist beurlaubt worden. Zuletzt skandierten VfL-Fans nach der abermals trostlosen Vorstellung der Wolfsburger gegen RB Leipzig „Hecking raus“ und „wir haben die Schnauze voll“. Tatsächlich liest sich die Bilanz von Hecking im Jahr 2016 wie die eines Absteigers: Ganze 25 Punkte in 24 Spielen konnte der Chefcoach für sich verzeichnen. Von dem erfrischend aufspielenden Team aus der Autostadt ist schon seit langer Zeit nichts mehr zu sehen gewesen.
Die Mannschaft scheint ein Mentalitätsproblem zu haben. Zwischen den Auftritten auf großer Bühne in der Champions League wie beispielsweise gegen das ruhmreiche Real Madrid im vergangenen Jahr (2:0) und den Durchschnittsleistungen gegen mittelmäßige Bundesligateams liegen Welten, was Einsatz, Spielfreude und Körpersprache betrifft.
De Bruyne-Verkauf nie kompensiert
Hecking ist es nie gelungen, den Abgang des Weltklasse-Spielers Kevin de Bruyne, einer der wenigen Spieler im Weltfußball, die die Fähigkeiten besitzen, ein ganzes Team konstant auf ein höheres Level zu heben, zu kompensieren. Das ihm neu zur Verfügung gestellte Spielermaterial präsentierte sich im Bundesliga-Alltag jüngst eher wie ein Haufen Individualisten als ein homogen funktionierendes Kollektiv. Der VfL Wolfsburg lebt extrem von der individuellen Klasse einzelner Spieler. Gegen kleine Teams fehlen oft die Lösungen im Spielaufbau. Eine klare Handschrift des Trainers Hecking und eine Spielphilosophie, für die der VfL steht, sind nur unzureichend zu erkennen.
Zuletzt hieß es auch, dass einige Spieler der Wölfe mit Heckings Menschenführung unzufrieden waren. Nimmt man alle Faktoren zusammen, ist die Entlassung für Wolfsburg am Ende alternativlos gewesen. Vielleicht hätte sie schon nach der vergangenen Spielzeit erfolgen müssen, als Konzepttrainer der Marke Favre noch auf dem Markt waren. Hecking selbst bedauert die Trennung, kennt aber die Gesetze, die das Business mit sich bringt: „Natürlich bin ich enttäuscht, aber es gehört als Trainer in diesem Geschäft dazu, dass man mit einer Trennung rechnen muss, wenn die Erfolge ausbleiben.“
Eine Frage der Transferphilosophie
Der Erfolg eines Fußballklubs hängt aber nur zu einem Teil an der Leistung des Trainers. Auf der anderen Seite wird der Sportdirektor, der den Kurs des Klubs definiert, in heutigen Zeiten immer wichtiger. Was ein guter Manager für einen Verein ausmachen kann, beweisen insbesondere die Beispiele Max Eberl bei Borussia Mönchengladbach, Michael Zorc bei Borussia Dortmund oder Jörg Schmadke beim 1. FC Köln. Auch wenn Allofs am Ende seiner Werder-Zeit ein paar enttäuschende Transfers verbuchte, machte er sich einst selbst einen Namen als einer der Topmanager in der Branche. Mit seinem außerordentlichen Gespür für Transfers holte er zahlreiche Spieler zu Werder Bremen, die in ihrer Entwicklung explodierten und somit ihren Marktwert vervielfachten wie beispielsweise Diego, Johan Micoud, Miroslav Klose, Valerien Ismaël oder Per Mertesacker.
In Wolfsburg jedoch, so scheint es, ist ihm sein Näschen für Transfers abhandengekommen. Als de Bruyne 2015 den Verein Richtung Manchester verließ, investierte Allofs fast 90 Millionen Euro in André Schürrle, Julian Draxler, Max Kruse und Dante. Keiner von den Vieren konnte die Erwartung, die der Verein in sie gesetzt hatte, konstant erfüllen. Für Schürrle und auch Draxler bezahlte der VfL zusammen 68 Millionen. Summen, die bis auf Bayern kein Verein in der Bundesliga bereit gewesen wäre, zu zahlen. Beide Spieler konnten ihr Potenzial in ihrer Karriere bisher nie konstant unter Beweis stellen.
Die Allofs-Verpflichtung Dante offenbarte schon zuvor bei den Bayern erhebliche Mängel im Spielaufbau, weshalb sich der Rekordmeister rechtzeitig vom Verteidiger trennte. Auch ein Kruse war schon vor seiner Wolfsburger Zeit dafür bekannt, ein schwieriger Charakter zu sein. Anstatt das Geld in junge entwicklungsfähige Spieler zu investieren, setzte der VfL rund um Allofs primär auf wohlbekannte Namen des deutschen Fußballs sowie Gesichter der Bundesliga. Vielleicht auch, um das Image des grauen VfL Wolfsburg öffentlichkeitswirksam mit deutschen Nationalspielern aufzupolieren. Ganz im Sinne von Sponsor VW. Die Hoffnung, dass sämtliche Spieler bei den Wölfen plötzlich ihr Potenzial konstant abrufen und darüber hinaus noch als Team funktionieren, war naiv und erfüllte sich nie. Inzwischen haben Schürrle, Dante und Kruse den Verein wieder verlassen. Wolfsburgs Transferpolitik wirkt einfallslos und unkreativ.
Schwacher Transfersommer
Dieser Weg setzte sich im zurückliegenden Transferfenster fort. Wieder gab man mit 50 Millionen Euro eine beträchtliche Summe für Neuzugänge aus. Mit Mario Gómez, Jakub Blaszczykowski, Daniel Didavi und Jeffrey Bruma wechselten vier altbekannte Gesichter der Bundesliga in die Autostadt. Für Nationalspieler Gómez musste mit Bas Dost der beste VfL-Torschütze der vergangenen Jahre Platz machen. Bei seinem neuen Verein Sporting Lissabon stellt Dost nun seine Klasse unter Beweis. Kuba, der aus Leistungsgründen beim BVB zuletzt ins zweite Glied gerutscht war, sollte Schürrle ersetzen. Mit Naldo verlor der VfL zudem eine immens wichtige Stütze im Team ablösefrei an die direkte Schalker Konkurrenz – unter anderem, weil sich dieser von der Vereinsführung nicht mehr wertgeschätzt gefühlt hatte. Didavi, ein Spieler mit zweifellos großem Potenzial, ist bei Wolfsburg genauso verletzungsanfällig, wie er es zu Stuttgarter Zeiten gewesen ist. Dabei ist er beinahe der Einzige im Wölfe-Kader, der Kreativität mitbringt, Impulse nach vorne setzt und ein Spiel an sich reißen kann.
Draxler könnte das rein fußballerisch auch, konnte seine großen Fähigkeiten aber bisher nie konstant abrufen. Der Ex-Schalker ist keiner, der ein Spiel in die Hand nimmt, wenn es schlecht läuft. Letztendlich führte auch die erneute Transferoffensive der Wölfe nicht dazu, dass der einstige Champions League-Teilnehmer wieder im oberen Tabellenviertel mitspielt.
Außendarstellung mangelhaft
„Das Ziel ist Europa und wenn wir das nicht schaffen, werden wir uns in einem Jahr zusammensetzen. Ich hatte zunächst einen anderen Plan, bin jetzt aber megahappy. Das Ziel ist es, erfolgreich zu sein und nächstes Jahr europäisch zu spielen“, verkündete Gómez bei seiner Vorstellung. Der Deutsch-Spanier drückt damit öffentlich zwischen den Zeilen aus, dass Wolfsburg für ihn nur eine Notlösung gewesen sei und er wahrscheinlich wieder weg ist, sollte Wolfsburg die Champions League verpassen. Man kann Gómez‘ Ehrlichkeit loben, dass er den VfL nicht als seinen Kindheitstraum bezeichnet, wie es viele Spieler herausposaunen, die zu einem neuen Verein wechseln. Die Message, die dahintersteht, ist aber problematisch. Trifft sie doch genau den Punkt, mit dem die Wolfsburger mehr und mehr zu kämpfen haben: Die Rede ist von mangelnder Identifikation der Spieler mit dem Verein.
Auch das Beispiel Draxler passt sehr gut zu diesem Phänomen. So kokettierte der Rekordtransfer nach nur einer gespielten Saison in diesem Sommer wochenlang mit einem Wechsel zu einem europäischen Topklub. Damit setzte er seinen Verein öffentlich unter Druck mit dem Vorwurf, dass dieser Versprechen nicht halte. Draxler würde die Autostadt lieber heute als morgen verlassen, wenn er nur könnte. Wolfsburg in Person von Allofs zeigte im Anschluss sogar öffentlich Verständnis für das unsägliche Verhalten des Jungnationalspielers. „Ich bin nicht irritiert und böse, weil es mittlerweile in diesem Geschäft dazugehört. Da kann innerhalb von kürzester Zeit so viel passieren. Es ist klar, dass Wolfsburg nicht das Ende seiner Träume ist – das war auch Schalke nicht.“
Draxler hat seinen herausposaunten Vorstoß weder öffentlich bereut noch sich entschuldigt, am Ende jedoch zähneknirschend zur Kenntnis genommen, dass er beim VfL einen gültigen Vertrag unterschrieben hat, aus dem er jetzt nicht herauskommt. Die teilweise uninspirierten Leistungen in der aktuellen Saison geben aber keinen Anlass zu denken, dass Draxler sich mit Wolfsburg tatsächlich identifiziere. Die Außenwirkung, die von diesem Vorfall ausging, ist fatal und schadet dem gesamten Team. Auch Ricardo Rodríguez stand in der gesamten Sommerpause kurz vor dem Abgang. Gustavo kokettierte mit einem Wechsel zu einem europäischen Topverein. Schürrle machte sein Vorhaben, zum BVB zu wechseln, früh öffentlich und bekam den Wunsch letztlich auch erfüllt.
VfL für viele nur eine Durchgangsstation
Der VfL Wolfsburg ist der Übergangsverein schlechthin geworden und unternimmt marketingtechnisch nichts, um dieses Image wieder loszuwerden. Er ist zu einem Klub verkommen, zu dem Spieler primär des Geldes wegen hinwechseln. Es herrscht bei einer Vielzahl der Neuankömmlinge schlichtweg ein Mangel an Identifikation mit dem Verein an sich und dem Gesamtkonstrukt. Böse ausgedrückt kann man den Klub aus der Autostadt in der jetzigen Form als Söldnerklub bezeichnen.
Der Kader beinhaltet zu viele Spieler, die sich längst bei einem europäischen Topverein sehen, anstatt Leistung über einen längeren Zeitraum abzuliefern. So kann perspektivisch kein homogenes Team entstehen, das an einem Strang zieht und sich kontinuierlich weiterentwickelt.
Neue Linie wünschenswert
Hinsichtlich aller Wechselabsichten seiner Spieler hätte Allofs als Manager längst eine strengere und konsequentere Linie fahren müssen. Es ist selten ratsam, Abwanderungswillige zum Bleiben zu zwingen, die sich öffentlich so klar gegen den Verein positionieren, wie es Draxler getan hat. Die Identifikation mit dem VfL Wolfsburg muss in Zukunft wieder eine Grundtugend sein. Das gilt sowohl für aktuelle Spieler, als auch für zukünftige Transfers.
Nicht allein die sportliche Qualität ist entscheidend für einen Spieler, sondern auch sein Charakter und seine Absicht, alles für den neuen Klub in die Waagschale zu werfen. Geld allein schießt keine Tore. Es muss auch ein Konzept dahinterstehen. Der Verein braucht einen Neuanfang. Mit Spielern, die wirklich bereit sind, sich für der Klub auf dem Platz aufzuopfern – und zwar nicht nur auf der großen Bühne der Champions League, sondern auch gegen Bundesliga-Mittelklasseteams. Der VfL-Manager muss nun einen Trainer finden, der der Mannschaft eine Handschrift vermitteln und eine langfristige Entwicklung anstoßen kann.
Bis jetzt hat sich die öffentliche Kritik des Absturzes der Wölfe überwiegend auf Hecking fokussiert. Doch ist in Wirklichkeit Allofs genauso verantwortlich. Er hat den Kader zusammengestellt und die zuletzt mangelhafte Außendarstellung zu verantworten. Durch die Entlassung des Trainers steht er zukünftig mehr in der Schusslinie. Mit Blick auf die finanziellen Möglichkeiten, die dem VfL zur Verfügung stehen, muss am Ende deutlich mehr herausspringen als in der jüngeren Vergangenheit. Sollte der Neustart mit dem neuen Trainer nicht gelingen und der Klub auch weiterhin im Mittelmaß versinken, muss beim VfL Wolfsburg die Personalie Allofs unbedingt auf den Prüfstand gestellt werden.
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